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DIE BELARUSSISCHE BILDENDE KUNST IM 20. JAHRHUNDERT

Michail Barazna

Die belarussische Kunst des 20. Jahrhunderts ist eine ganzheitliche dynamische Erscheinung im künstlerischen Leben. Im Zusammenhang mit den radikalen sozialen Änderungen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, der Bildung von neuen Staaten, darunter auch Belarus, und deren Suche nach eigenen Entwicklungswegen wuchs das Interesse an nationalen Erfahrungen im Bereich Kultur.

Die Geburtsstunde künstlerischer Stilrichtungen wird nicht nach dem Kalender geplant. Trotzdem wird das chronologische Prinzip, wo Kunststile nach Jahrzehnten und Jahrhunderten betrachtet werden, nach wie vor in der Kunstwissenschaft bevorzugt. Eines der Probleme bei der historischen Analyse der zeitgenössischen belarussischen Kunst liegt an der gekünstelten Wahl des Jahres 1917 als Bezugspunkt. Der methodologische Fehler oder einfache Ignoranz verwirren manche Forscher, die Prozesse in der belarussischen Kunst des 20. Jahrhunderts erkunden wollen.

Nach dem Aufstand von 1905 begann eine langsame Wiederbelebung des künstlerischen Lebens im „Nord-Westlichen Gebiet des russischen Kaiserreiches“ (das heutige Belarus). Zu jener Zeit fanden häufiger Kunstausstellungen statt, das Verlagswesen breitete sich aus, neue Museen wurden gegründet. Intensiv entwickelten sich auch regionale Kulturzentren: Vilnius, Witebsk, Mogiljow, Grodno. Die Forscher dieser Periode stellen eine für diese Zeit typische Wechselwirkung belarussischer, russischer, jüdischer, ukrainischer und polnischer Kultur fest.

Der Erste Weltkrieg und später die Oktoberrevolution hatten tragische Folgen für die belarussische Kultur. Die meisten Gutshöfe und Schlösser wurden zerstört, Bibliotheken und Sammlungen der angewandten Kunst wurden vernichtet.

Das Jahr 1917 ist ein Wendepunkt in der Geschichte eines großen Teils Europas. Aber die Situation mit der Kunst ist noch komplizierter. Die klassische Witebsker Avantgarde hat etwa viel mit dem Futurismus gemeinsam, und die Kunst von Marc Chagall ist weitgehend mit der Atmosphäre in Paris zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbunden. Das Schaffen von Jasep Drazdowitsch und Ferdinand Ruschitz stimmt mit den Traditionen der Sezession und des europäischen Symbolismus überein. Zu den großen belarussischen Künstlern des 20. Jahrhunderts gehören Kasimir Malewitsch, Władysław Strzemiński, Jehuda Pen, Marc Chagall, Michail Filipowitsch¬, Roman Semaschkewitsch u.a. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte Belarus reale Chancen, in die europäischen künstlerischen Experimente aufgenommen zu werden. In den 1920er Jahren wurden diese Möglichkeiten zum Teil umgesetzt, der Höhepunkt der Entwicklung wurde aber nicht erreicht.

Zu dieser Zeit kristallisierte sich die belarussische Kunstschule heraus, aber dieser Prozess war nicht abgeschlossen. Die Besonderheit der belarussischen Kunst Anfang der 1920er Jahre bestand darin, dass sich die Kunst im östlichen (sowjetischen) Belarus auf der Grundlage der russischen Avantgarde und des italienischen Futurismus entwickelte. Die belarussische Avantgarde des 20. Jahrhunderts machten konstruktivistische Architektur, Malerei, Plakatkunst, Staffelei- und Buchgrafik aus. In Westbelarus hingegen herrschten die Ideen der Sezession und des Symbolismus. Wichtig für die belarussische Kunst waren die Kontakte zur russischen Avantgarde und ukrainischen Moderne.

Der Beginn der 1920er Jahre war die produktivste Zeit in der Entwicklung der belarussischen bildenden Kunst. Zu dieser Zeit versuchte Kasimir Malewitsch, seine Kunst durch die Witebsker Vereinigung UNOVIS in der Gesellschaft zu verorten. Die Ende der 1920er Jahre entfalteten Repressionen gegen Kunst- und Kulturschaffende konnten die progressiven Tendenzen nicht auf einmal abbrechen. Ende der 1930er Jahre wurden die konstruktivistischen Bauten fertig gebaut, es wurden Bücher mit Elementen der UNOVIS-Experimente herausgegeben. Die Kunst der 1940er Jahre bedarf noch einer gründlichen Untersuchung. Die Nachkriegskunst der 1950er Jahre entwickelte sich auf der Grundlage ideologischer Richtlinien der kommunistischen Partei, und die offizielle Kultur jener Zeit wurde durch die Muster totalitärer Ästhetik gefiltert.

Das Chrustschow’sche Tauwetter in den 1960er Jahren spiegelt die relative Entwicklung von Kunst und Kultur in Belarus wider. Von der Zeit an zeichnen sich die Entwicklungstendenzen in der belarussischen Kunst durch eine gewisse Dynamik aus. Der Demokratisierungsprozess war nicht lokal und isoliert. Die bildende Kunst der 1960er Jahre entwickelte sich in engem Kontakt mit der Kultur der Region. Die Künstler begannen, fortschrittliche Traditionen der belarussischen Volkskultur künstlerisch zu interpretieren. Diese Tendenz war in der Buchgestaltung und Druckgrafik besonders stark ausgeprägt. Zu dieser Zeit tauchten auf der Kunstszene die ersten Absolventen des Belarussischen staatlichen Instituts für Theater und Kunst (seit 1991 - die Belarussische staatliche Kunstakademie) auf. Die belarussische Kultur wurde mit professionellen Künstlern versorgt, die vor Ort ausgebildet worden waren. In den 1960er Jahren wurde somit der Grundstein zu der Bildung der modernen belarussischen Kunstschule gelegt.

In den 1970er Jahren entwickelte sich die Kunst vor dem Hintergrund der Stagnation und der totalen Rückschrittlichkeit dieser Epoche. Die Kunst- und Kulturschaffenden wendeten sich der Geschichte Weißrusslands zu. Die historische Erfahrung der 1960er Jahre wurde umgedeutet. Die Euphorie der 1960er Jahre verging. Allerdings sind die 1970er Jahre eine entscheidende Etappe in der Entstehung der belarussischen Avantgarde.

In den 1980er Jahren zeigte sich ein großes Interesse am künstlerischen Erbe der 1920er Jahre. Die Ausstellungen der Minsker Künstlergruppe „Njemiga’17“ führten in den 1980er Jahren zu einer Wendung von der Thematik zum Problem der Farbigkeit, mit dem sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts Michail Filipowitsch¬ befasste. Eine offene Präsentation der belarussischen Konzeptkunst fand 1984 in der Ausstellung „1+1+1+1+1+1+1“ in Minsk statt. Der Einfluss der Konzeptkunst ist auch in den Werken von Wladimir Zesler und Sergei Woitschenko spürbar. Eine große Rolle in der Präsentation der Conceptual Art spielten die Galerie für unabhängige Kunst „Die 6. Linie“ in Minsk und die Ausstellung der aktuellen Kunst „in-formation“ in Witebsk.

Die Katastrophe von Tschernobyl änderte den Platz des Menschen in der Gesellschaft und bestimmte die Suche nach einem neuen Konzept der Person in der Kunst. Die Ereignisse des Jahres 1986 beeinflussten stark den Inhalt aller kulturellen Prozesse und führten zum Zerfall der ideologischen Vorschriften. In den letzten Jahren konzentrieren sich die Künstler weitgehend auf die Probleme der Innenwelt, und nicht auf die soziale Problematik. Diese Tatsache ist eine Folge der Änderungen im Massenbewusstsein der Bevölkerung. Ende der 1980er Jahre änderte sich die Art der Ausstellungen. Neue künstlerische Errungenschaften spiegelten deutlicher das Verhältnis des Publikums zum Geschehenen wider. Große Künstler haben ihre Sicht auf die Vergangenheit geändert. Nach Tschernobyl will man keine Übermenschen mehr sein, die ständig neue Maschinen schaffen und das Unbekannte erobern wollen. Auch in der nächsten Zeit wird die belarussische Kunst aus meiner Sicht keine großen Ausmaße haben oder extrem laut sein.

Anfang der 1990er Jahre war das künstlerische Leben deutlich vielseitiger als in den bisherigen Jahrzehnten. Trotzdem blieb die belarussische Kunst hinter den Anforderungen der Zeit zurück. Aktiv setzten sich Fotographie, Art-Design, Aktionskunst, Computergrafik etc. durch. In der bildenden Kunst wurden zu dieser Zeit neue Genres entdeckt. Damit begann aber auch gleichzeitig die Kommerzialisierung der Kunst. Das Streben nach einem schnellen kommerziellen Erfolg, der mangelnde Einfluss seitens der Künstler und Kunstkritiker sowie das Fehlen eines wissenschaftlich begründeten Programms zur Entwicklung der bildenden Kunst wirkten sich negativ auf das allgemeine Niveau der modernen Kultur aus. Die Tendenzen in der Kunst der 1990er Jahre hielten an den Traditionen der vergangenen Jahre nicht mehr fest. Die Kulturszene wurde chaotisch mit den Zitaten gefüllt. Dadurch, dass es noch keine unabhängigen Finanzierungsquellen gab, wurde die Entwicklung künstlerischer Tendenzen und eines funktionierenden Kunstmarktes gebremst.

Von einem qualitativ neuen Niveau der belarussischen Kunst Anfang der 1990er Jahre zeugt eine aktive Ausstellungstätigkeit und lebhafte Diskussion der Vertreter verschiedener Stilrichtungen sowie die Erweiterung des internationalen kulturellen Austausches usw. Die Sots Art fand in Belarus im Unterschied zu Russland keine weite Verbreitung. Es muss noch erforscht werden, woran das liegen mag. An dieser Stelle möchte ich einige belarussischen Plakatkünstler benennen, die auch in prominenten internationalen Ausstellungen ausgezeichnet worden sind: W. Zesler, S. Woitschenko, A. Scheljuto, J. Kitajewa, A. Nowozhilowa u.v.a.m. Heute befinden sich ihre Plakate in Museen im Ausland und in Privatsammlungen.

Die belarussische Konzeptkunst (A. Zhdanow, L. Russowa, T. Kopscha, I. Kaschkurewitsch, W. Pjatrou, W. Tschernobrissow etc., die informellen Gruppen „Quadtrat“, „Komi-kon“, „Blo“, „Pluralis“, „Forma“, „Halina“) nimmt auch manche traditionellen Kunstformen, vor allem Gemäde und Bildhauerei, auf. Die Konzeptmalerei unterscheidet sich grundlegend von der gewöhnlichen Malerei, denn Bilder der Konzeptkünstler stellen nichts außer der eigentlichen Kunstsprache dar. Als eine Art künstlerisches Schaffen, das in gewissem Maß mit traditionellen Kunstrichtungen wie Grafik, Fotographie und Buchillustration in Zusammenhang steht, wären unter anderem Künstlerbücher zu nennen, die aus Text und künstlerischen Elementen bestehen (Künstler: L. Russowa, L. Silnowa, I. Sawtschenko). Mitte der 1980er Jahre wendeten sich die belarussischen Konzeptkünstler (I. Kaschkurewitsch, W. Wassilejew, A. Malej, A. Werenitsch, A. Worobjow, A. Klinau, O. Ladissow, A. Logwin, W. Zlenko u.a.) der Installation zu. Anfang der 1990er Jahre wurden die sogenannten Minsker Konzeptfotographen I. Sawtschenko, W. Schachlewitsch, H. Moskaljewa u.a. auch im Ausland bekannt.

Im Laufe des 20. Jahrhunderts und im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hat die belarussische Kunstschul e ihre Fähigkeit zur Weiterentwicklung bewiesen, ohne dabei ihre Ganzheit als künstlerische Erscheinung zu verlieren. Die belarussische bildende Kunst zeichnete sich immer durch eine leichte Aufnahme progressiver Elemente der Weltkultur aus. Jetzt existieren Land und seine Kunst unter komplett anderen historischen Bedingungen. Die Analyse und Erforschung dieser neuen Etappe bilden dabei eine interessante Herausforderung.

Die grundlegend neue Qualität der Kunst zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist nicht nur durch den Willen des Künstlers, sondern auch durch ganz objektive Umstände bedingt. Die neue Etappe zeugt von veränderten Erwartungen, die mit der Gesellschaftsordnung, aber auch, wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, mit einem breiteren Spektrum künstlerischer Interessen und den daraus entstehenden neuen Tendenzen zusammenhängen.

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