Julia Fedotowa (Julia Fedotova)
Die Belarussen sind komische Menschen. Einerseits sind sie stolz auf ihre Bescheidenheit, Schüchternheit, ja sogar Ängstlichkeit. Andererseits machen sie über die genannten Eigenschaften Witze. In beiden Fällen wird vergessen, dass diese Liste nationaler Eigenheiten keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Bescheidenheit, Schüchternheit und Ängstlichkeit, die als Grund für Stolz bzw. Spott dienen, sind die Folge eines noch zu Sowjetzeiten angeeigneten Minderwertigkeitskomplexes. Zu diesem Phänomen wurde schon viel in der postsowjetischen Ära geforscht. Und scheinbar hält die neue Generation den belarussischen Akzent für ein beschämendes Merkmal von Rückständigkeit und Provinzialität nicht mehr… Weit gefehlt! In diesem Punkt können Sie mir als Dozenten an einem Kunstcollege glauben, da ich jeden Tag meinen Studenten widersprechen muss, die meinen, dass wir armselig und rückständig seien, dass es in der belarussischen Kunst nichts Interessantes gäbe. Man könnte darüber lachen, würde dieser Komplex nicht für manche jungen Künstler zum ernsten Problem, wenn diese dabei sind, ihre Werke auszustellen und sich den allgemeinen kulturellen Tendenzen anzuschließen.
Erste Version – das Minderwertigkeitsgefühl wird nicht auf sich selbst als Künstler, sondern als Belarussen bezogen. Junge, interessante und talentierte Autoren bekommen höllische Angst, wenn sie die Worte „internationaler Wettbewerb“, „internationales Projekt“ oder „Ausstellung im Ausland“ hören. Könnte sich jemand in Deutschland (Großbritannien, Frankreich etc.) für die hiesige hausgemachte traditionelle Kunst interessieren? Und der Künstler kapselt sich ab. Oder es passiert etwas Schlimmeres – der Künstler ahmt fieberhaft alles Europäische nach und vernichtet somit eigene Schule und Tradition. Das Ergebnis ist trostlos – die Ideen sind nicht mehr so frisch, das ganze Werk wirkt nicht organisch und uninteressant.
Zweite Version –der Minderwertigkeitskomplex führt zur Überzeugung von nationaler Überheblichkeit. Hier ein Zitat: „Ich habe im Internet nachgeschaut. In Deutschland (Großbritannien, Frankreich etc.) hat man keine blasse Ahnung von Kunst.“ Darauf folgt ein Redestrom, der auf die Worte „Untergang Europas“ hinausläuft. Dann wird demonstrativ betont, dass es so etwas wie Kunst außerhalb des eigenen Landes nicht gibt, geschweige denn, dass diese eine Blüte erlebt. Im Endeffekt ist so ein Künstler betont nachlässig, überheblich und verachtungsvoll, wenn er seine Werke einem ausländischen Publikum vorstellt. Und wenn dieser Künstler wiederum nicht akzeptiert wird, beschuldigt er die ausländischen Betrachter der Unfähigkeit, „echte Kunst“ zu erkennen.
Dieses Problem junger belarussischer Künstler ist weniger lächerlich, als vielmehr ernst. Tröstend wirkt die Tatsache, dass es eine dritte Art von Künstlern gibt, die weder an einem Überheblichkeits- noch an einem Minderwertigkeitskomplex leiden. Sie schätzen ihre eigenen Traditionen und greifen zugleich gerne interessante Ideen auf, die aus dem Ausland kommen. Sie verarbeiten diese und integrieren sie in ihre Weltanschauung. Das Ergebnis ist in diesem Fall in der Regel durchaus sehenswert.
Besonderheiten der Integration in den globalen Kulturraum
In einem informellen Gespräch kann man unendlich viel über junge Künstler und ihre Suche nach dem richtigen Weg zum Betrachter reden. Bei anerkannten und ehrwürdigen Meistern ruft das Thema ein weises, träumerisches Lächeln und einen Seufzer hervor: „Oh, Jugend, Jugend…Wie schnell doch die Zeit vergangen ist …“ Und sofort berichten sie ihrem Gegenüber von heimtückischen Fallen, bösen Konkurrenten und drakonischer Strenge der Konservativen, die das Recht der Jüngeren auf ihre Art der Wahrheit nicht im Geringsten anerkennen wollen. Diese mit Heldentum gespickten enden zumeist beim edlen Ritter, der den Drachen besiegt, den Fallen und Verführungen entgeht und nun frei über alles sprechen kann, was für ihn interessant ist.
Ganz anders äußern sich zum Thema diejenigen, die erst am Anfang ihres künstlerischen Werdegangs stehen, diejenigen, die noch jung sind und Kontakt zu Kollegen und zum Betrachter suchen. Hier hört man keine lustigen oder schaudererregenden Heldensagen, dafür erfährt man viel über die realen Probleme junger Künstler. In Bezug auf ein konkretes Land, in unserem Fall auf Belarus, sieht die Liste von Hauptproblemen eines jungen Künstlers ungefähr so aus:
- Besonderheiten des Bildungswesens
- Besonderheiten des heutigen sozialen Systems
- Besonderheiten der Präsentation eines Künstlers (Galerien, Ausstellungen sowie allgemein die Möglichkeit, mit dem Publikum in Kontakt zu kommen)
- Besonderheiten des belarussischen Informationsraumes
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit und hundertprozentige Objektivität zu erheben, kann man dennoch einige Ausführungen zu den oben aufgezählten Punkten machen.
Beginnen wir mit den Besonderheiten des belarussischen Bildungswesens, das aus drei Stufen besteht: Kunstschulen, Kunstcolleges und Hochschulen. Die Hauptaufgabe der Kunstschulen besteht darin, ein allgemeines Interesse an Kunst zu wecken. Die Kunstcolleges vermitteln Grundkenntnisse klassischer und akademischer Kunst. Unter den Hochschulen nimmt die wichtigste Stelle die Akademie der Künste ein. Hier wird denen, die schon über erste Kenntnisse und Fertigkeiten verfügen, die Möglichkeit gegeben, zu experimentieren und eigene Ideen umzusetzen. Eine wichtige Rolle spielt an der Akademie auch die klassische Schule. Denn es ist unmöglich, „Faust“ zu schreiben, ohne dass man das Alphabet beherrscht, selbst wenn man ausgereifte Ideen hat und emotional vorbereitet ist.
Dies schafft wiederum folgendes Problem für junge Künstler. Sie sind überzeugt, dass man dem Publikum ohne Kenntnis der gesamteuropäischen Kunst und ihrer Entwicklungswege nichts Interessantes vorstellen kann. Sie verschwenden viel Zeit und Mühe damit, sich mit den europäischen Traditionen, statt mit den eigenen Projekten zu befassen.
Bemerkenswert ist auch der Unterschied zwischen den Unterrichtsmethoden in Belarus und, sagen wir, Deutschland. In Belarus bekommt jeder Student seine eigene Aufgabe, gearbeitet wird aber im Team, so dass man seine Kommilitonen bei der Arbeit beobachten kann. In Deutschland (soweit es dem Autor des Artikels bekannt ist) arbeitet eine Gruppe von Studenten an einem gemeinsamen Projekt. Jede Methode hat dabei ihre Vor- und Nachteile. Die Belarussen haben keine Erfahrung mit der Konkurrenz von Ideen (wie auch, wenn am Projekt ein Einziger arbeitet?!). Die deutschen Studenten hingegen konzentrieren sich weniger auf die Individualität des Ansatzes (schließlich arbeiten sie im Team, wo die Fehler eines Einzelnen vom Kollektiv korrigiert werden!). Man könnte über ein Bildungskonzept nachdenken, das alles Beste aus beiden Systemen in sich vereint, doch das würde über den Rahmen dieses Artikels hinausgehen.
Des Weiteren möchte ich das Thema der sozialen Beziehungen im künstlerischen Leben anschneiden. Zur Zeit der Sowjetunion gab es den sogenannten Künstlerverband, der einerseits staatlich „gefördert“ wurde und zweifellos zahlreiche Mängel hatte. Andererseits bot er jungen Künstlern in einem gewissen Maße die Möglichkeit, im professionellen künstlerischen Leben Fuß zu fassen. Im postsowjetischen Belarus existierte der Künstlerverband weiter, obwohl er weitgehend seine Bedeutung verlor. Das liegt unter anderem am Durchschnittsalter seiner Mitglieder: 68-70 Jahre (die Statistik ist hart!). Denn ungeachtet all ihrer Verdienste und Leistungen haben sie doch eher ein geringes Interesse an der Jugend mit ihren Problemen. Selbstverständlich würde jedes Mitglied des Künstlerverbandes seine Kinder, Enkel, Freunde seiner Kinder und Enkel und seine Schüler bei ihren ersten Schritten auf dem Weg zur Gemeinschaft der Künstler unterstützen. Doch wenn es um die Suche nach neuen Talenten außerhalb der eigenen Umgebung geht, stehen sie ratlos da und verweisen auf ihr Alter. Und bisher gibt es noch keine Organisation, die den Künstlerverband wenigstens in einigen Funktionen ersetzen könnte. Warum das so ist, wäre ein Thema für weitere Untersuchung.
Weiterhin möchte ich auf Schwierigkeiten eingehen, auf die ein junger Künstler stößt, wenn er sein Publikum erreichen will. Die meisten belarussischen Galerien werden vom Staat gefördert. Deshalb mögen ihre Kuratoren, genauso wie alle Beamten in jedem Land auf der Welt, keine riskanten Experimente und Provokationen, die vom Publikum und besonders von den Behörden (das wäre eigentlich das Allerschlimmste!) falsch interpretiert werden könnten. So arbeiten die Kuratoren lieber mit den Künstlern, die schon einen bestimmten Ruf haben und deren professionelle Tätigkeit keine Bedenken hervorruft. Jede Ungeheuerlichkeit wird dann mit einem bekannten Namen wieder gutgemacht. Und was sollte in diesem Fall ein junger Autor machen, dessen Schaffen auf der postmodernistischen Neuinterpretation der Klassik beruht? Wie gesagt, ist der Anteil nicht staatlicher Galerien und Ausstellungsflächen in Belarus sehr gering. Übrig bleibt nur noch der virtuelle Weg zum Betrachter. Aber das Internet kann keine universelle Lösung sämtlicher Probleme bieten!
Nun gehen wir zum vierten Punkt über. Das Internet ist in jedem Land dasselbe. Man sucht das, was man braucht, und gebraucht später das Gefundene. Doch ein junger belarussischer Künstler weiß nicht einmal, was er suchen soll. Es ist kein Geheimnis, dass das Internet in der belarussischen Provinz häufig ein seltsames Tier ist. Bevor man dort etwas findet, muss man von diesem „Etwas“ eine Vorstellung haben. An dieser Stelle kommen die Mängel belarussischer Presse ans Tageslicht. Tages- und Wochenausgaben schenken der Kunst so gut wie keine Aufmerksamkeit. Es ist ein seltenes Vergnügen, dass man dort Informationen, geschweige denn kompetente Berichte über Ausstellungen, Präsentationen oder Kunstaktionen findet. Dem Thema der Kunst widmen sich zwei Periodika –Zeitschrift „Iskusstwo“ und Zeitung „Kultura“. Sie konzentrieren sich allerdings ausschließlich auf die belarussische Kunstszene und erstatten nur noch karge Berichte über das künstlerische Weltgeschehen. Es gibt auch keine Webseiten, wo man etwas Näheres zum Thema erfahren kann. Das Internet ist also nutzlos, man weiß wenigstens nicht, was man dort suchen soll. Hier heißt es wie in einem russischen Märchen: „Geh hin, ich weiß nicht wohin, bring das, ich weiß nicht was.“
Und so ist ein junger belarussischer Künstler zwischen zwischen Skylla und Charybdis. Das Bildungswesen hat ihm keine Fähigkeit beigebracht, im harten freien Wettbewerb zu überleben. Keine Organisation kann ihm helfen, auf der Kunstszene Fuß zu fassen. Kaum eine Galerie wird das Risiko eingehen, die Werke eines unbekannten Künstlers auszustellen. Die Suche nach den Informationen erfolgt im Dunkeln. Da wundert sich einer, woher Belarus so viele junge interessante Künstler hat?!