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EIN JAHRHUNDERT IN DER BILDENDEN KUNST VON GOMEL

Im Südosten von Belarus liegt ein großes administratives Zentrum, das zugleich die zweitgrößte und –bevölkerungsreichste Stadt in Belarus ist. Diese Stadt heißt Gomel. Wenn man durch die Straßen der Altstadt und durch moderne Wohnquartiere wandert, kann man sich kaum vorstellen, dass Gomel noch vor hundert Jahren eine kleinere Provinzstadt mit der entsprechenden Bevölkerungszusammensetzung war. Gomel hatte eine Besonderheit: die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gebaute Eisenbahn förderte den Unternehmensgeist bei den Einwohnern, die Einzel- und Großhandel betrieben und die Bevölkerung der umliegenden Provinzen mit den angekommen Gütern versorgten. Das Bildungssystem in Gomel entsprach den damaligen russischen Standards. Die Grund- und Pfarrschulen vermittelten den Kindern einfacher Bürger Grundkenntnisse in Lesen, Schreiben und Rechnen. Die wenigen Gymnasien vermittelten ein breiteres Spektrum an Wissen. Neben Mathematik, Sprachen, Geschichte und Geographie wurden hier den Kindern Tanz, Gesang, technisches Zeichnen und Kunsterziehung unterrichtet. Die ästhetische Geschmacksbildung und die Möglichkeit, das Schöne zu verstehen, hängten weitgehend mit dem gesellschaftlichen Stand zusammen. Die in Büchern und Periodika gedruckten Reproduktionen waren für die meisten Bürger die einzige Möglichkeit, die Strömungen der bildenden Kunst kennen zu lernen. Die fragmentarischen Informationen aus den Dokumenten, die aus dem frühen 20. Jahrhundert stammen, belegen, dass Werke einheimischer Hobbykünstler manchmal bei den Abenden öffentlicher Versammlungen präsentiert wurden. Die Namen der meisten Künstler sowie ihr künstlerisches Erbe sind in den Wirrnissen des 20. Jahrhunderts verloren gegangen.

Die russische Revolution von 1917 und die darauf folgenden politischen und wirtschaftlichen Änderungen konnten nicht ohne Einfluss auf das Schaffen etablierter Meister und die Bildung junger Künstler erfolgen. Die ersten zehn Jahre nach der Revolution waren eine Zeit von Miteinanderleben, Zusammenstoß und Kampf verschiedener Stilrichtungen. Zu dieser Zeit belebte sich das künstlerische Leben in Gomel.

1918 wurde am Klub der Eisenbahner das Michail-Wrubel-Kunstatelier gegründet, an dessen Spitze Sergej Kowrowski (1890-1944) stand. 1921 fuhren die begabtesten Studenten zusammen mit dem Leiter des Ateliers nach Moskau, um sich an der Höheren künstlerisch-technischen Werkstätte („Wchutemas“) fortzubilden. Eine von ihnen war Jelena Samojlenko (Maschkowzewa). Sie erinnert sich so an diese Zeit: „Wir saßen in einem Güterwaggon, der mit Stockbetten ausgestattet war. Unser Waggon wurde an zufällige Güterzüge angehängt. Wir hatten eine Woche gebraucht, bis wir in Moskau ankamen. Aber wir waren jung und voller Hoffnungen. Unterwegs hatten wir viel Spaß. So wurde auf unserem Waggon ein großes Wort „ChLAM/ SCHROTT“ mit Kreide geschrieben (die russische Abkürzung steht für Maler, Schriftsteller, Artisten, Musiker). An dieser Aufschrift erkannten wir an Haltestellen unseren Waggon. Wir kamen rechtzeitig an. Alle arbeiteten in unterschiedlichen Werkstätten. In den Unterrichtsräumen war es kalt. Wir arbeiteten in Mänteln. Es war furchtbar kalt. Aber da der Wunsch zu lernen so groß war, schreckte uns nichts ab.“

In den 1920er Jahren war Wchutemas die führende Bildungseinrichtung, die innovative Lehrmethoden verwendete. Die Dozenten waren Vertreter verschiedener Stilrichtungen: Abram Archipow, Sergei Maljutin, Ilja Maschkow, Robert Falk u.a. Der Wchutemas-Absolvent Andrej Gontscharow erinnert sich an seine Studienjahre und den Dozenten Ilja Maschkow, dessen Studentin u.a. die Gomelerin Jelena Samojlenko war: „Ilja Iwanowitsch Maschkow wollte, dass wir verschiedene malerischen Techniken und Methoden in der Praxis beherrschen. So malten wir dasselbe Stillleben zuerst im Stil des Pointillismus, dann naturalistisch und schließlich „maschkowartig.“ Eine große Rolle spielten für uns Gespräche über Kunst und Besuche im Puschkin-Museum, wo Maschkow uns die Techniken von Matisse, Cézanne und Kubisten beibrachte. Es war meine erste Bekanntschaft mit der zeitgenössischen westlichen Malerei.“ Die Vertreter der Gomeler Kunstszene Georgy Nisski, Lew Smechow, Akim Schewtschenko, Jelena Maschkowzewa u. a. wurden später bekannte Maler und Grafiker. Sergej Kowrolwski kehrte nach Gomel zurück, nachdem er die Höhere künstlerisch-technische Werkstätte absolviert hatte. Er arbeitete im Kunstatelier am Kulturpalast der Eisenbahner, wo er viele neue Talente entdeckte.

In den 1930er Jahren spielten sich in der Gomeler Kunstszene dieselben Prozesse wie im übrigen Land ab. Aufgrund der politischen und ideologischen Zensur verdrängten die offiziellen Behörden von der öffentlichen Kunstszene diejenigen Stilrichtungen, die die offiziellen Standards für Kunst nicht erfüllten. Es wird zur Hauptaufgabe der Künstler, verständliche für breite Massen zu sein und die grandiosen Änderungen im Land widerzuspiegeln. Die Suche nach neuen künstlerischen Ausdruckmethoden hat keinen Platz mehr. Für mehrere Jahrzehnte wird der sozialistische Realismus die einzige offiziell erlaubte Kunstrichtung. Die Werke von Wassilij Aksamitow, Sergej Kowrowski, Boris Zwinogrodski, Konstantin Ljebedjew und anderen Gomeler Meistern stellen eine Dokumentation der Stadtgeschichte dar, obwohl jeder der aufgezählten Künstler eine eigene plastische Sprache hatte.

Einen besonderen Platz nimmt unter den Künstlern Boris Fjodorowitsch Zwinogrodski (1896-1982) ein. Sogar das unerfahrenste Publikum wird von der Dynamik, einer unendlichen Räumlichkeit und der innigsten Lyrik seiner Werke gefesselt. Er malt industrielle und städtische Landschaften, seine Lieblingsecken in den Gomeler Vororten, den Fluss Sosch , dem er mehrere seiner Werke gewidmet hat. Überall sieht man die Schrift des Meisters, der eine Hauptstadtbildung hatte (Zwinogrodski absolvierte die Moskauer Hochschule für Malerei, Bildhauerei und Architektur) und in allen seinen Werken der klassischen russischen Schule treu blieb. Der Künstler will gegenüber dem Betrachter sogar in kleinsten Details ehrlich sein, deshalb malt er überwiegend nach der Natur. Der Künstler beschreibt folgendermaßen, wie seine Bilder entstehen: „Ich kletterte aufs Dach des Pionierpalastes, von wo ich eine überwältigende Aussicht hatte: das Frühjahrshochwasser bis zum Horizont. Von Luft, Sonne und Weite wurde mir schwindlig. Ich hatte nur eine Sorge: wie kann man die Luft und den Sonnenschein ergreifen und aufzeichnen, wie kann man diese mächtige Wasserflut malen. “

Boris Zwinogrodski schuf Dutzende von Werken und hinterließ zahlreiche Lehrlinge. Seit 1948 war er Leiter des Kunstateliers am Kulturpalast der Eisenbahner und leistete einen bedeutenden Beitrag zur Herausbildung der Gomeler Malereischule.

Um falsche Rh4etorik der offiziellen Ideologie zu umgehen, wendeten sich viele Künstler an die Natur. Wiktor Kasatschenko (1918-1998), einer der Gründer der Gomeler Malereischule, verbindet in seinen Bildern industrielle Landschaften und ihre anstrengenden Lebensrhythmen mit der Faszination eines allein stehenden Baumes am Ufer eines Teiches und der Begeisterung über den blühenden Frühlingsgarten.

An dieser Stelle sollten wir auch Stanislaw Djakonow (1932-2003) erwähnen. Er arbeitete in verschiedenen Genres, seine Farbenpalette ist geschmackvoll und festlich. Stanislaw Djakonow malte ausdrückliche Landschaften, historisch getreue Portraits und thematische Bilder. Er schaffte es, monumentale Werke auf strenge und lakonischen Art zu malen. Seine städtischen Landschaften sind von sanfter Lyrik erfüllt.

Anfang der 1960er Jahre gewinnt die Landschaftsmalerei in den Werken von Dmitri Olejnik (1929-2003), Nikolaj Kasakewitsch (geb. 1934) und Robert Landarski (geb.1936) einen besonderen Klang. Sie waren Gründer des Gomeler Impressionismus, einer neuen Richtung in der bildenden Kunst von Gomel. Für ihre Bilder sind eine fröhliche Atmosphäre, helle saftige Töne und Verzicht auf die schwarze Farbe typisch. Robert Landarski erinnert sich, wie diese Bilder bei den großen republikanischen Ausstellungen ankamen: „…alle kamen gelaufen, um sich die Werke unserer Künstler anzusehen. Das kann ich gut verstehen: denn damals war es üblich, „braune Ofentüren zu malen“, wie es der Maler Dmitri Polenkow sagte. Und bei uns gab es so viele Farben.“ Anfangs stoßen die jungen Künstler auf viel Kritik seitens anerkannter Meister, aber ihre Manier setze sich allmählich durch und gewann ihre Anhänger.

Die ideologischen Verbote, die das Schaffen von Künstlern stark einschränkten, hinderten sie, ihre Talente voll zu entfalten. Während Künstler die sozialen Aufträge erfüllten, gab es auch kurze Augenblicke des Schaffens für sich. Aber die Künstler verstanden, dass diese Werke nie ausgestellt werden. Die sowjetische Periode in der Geschichte der bildenden Kunst von Gomel und ihr „inoffizieller Teil“ werden Stück für Stück wiederhergestellt und bedürfen weiterer Untersuchung.

Politische und wirtschaftliche Änderungen in den 1980-1990er Jahren führten zum Hemmungsabbau in der bildenden Kunst und in der ganzen Kunstszene. Neben dem Realismus wurden viele andere unter Kritik stehende Stilrichtungen rehabilitiert. Die Vielfalt von Stilen wird allmählich zur Norm. Abstrakte Kunst und Surrealismus, Expressionismus und Realismus, Sots Art und Pointillismus – das ist nur eine unvollständige Liste von Stilen, derer sich die Gomeler Künstler in den 1990 – 2000er bedienen. Um nur einige zu nennen, sind es Igor Semeko, Ljubow Stepanowa, Witali Denissenko, Swetlana Nozdrin-Plotnizkaja, Andrej Krylow, Alexander Suschkow, Jewgenij Semenjuk. Einige von ihnen arbeiten in einem einzigen Stil und feilen ihre einzigartige Schrift aus, während sich die anderen in verschiedenen Stilrichtungen ausprobieren und das Publikum andere Seiten ihres Talents entdecken lassen.

Die moderne Kunstszene von Gomel ist genauso vielfältig wie die Bedürfnisse des Publikums. Nicht offiziellen Umfragen von Besuchern der Ausstellungen im Gomeler Palast-und-Park-Ensemble haben folgendes ergeben: 50 Prozent der Besucher ziehen klassische Stilrichtungen vor, 40 Prozent besuchen verschiedene Ausstellungen und 5 Prozent der Besucher wollen in den Ausstellungen moderne Experimentierkunst sehen. Zu der dritten Gruppe gehört die jüngere Generation, die allen Neuerungen positiv gegenübersteht.

In vielerlei Hinsicht formt sich die bildende Kunst der Zukunft schon heute. In unserem Land, wo die klassischen Traditionen noch sehr ausgeprägt sind, stehen wir erst am Beginn des Weges zu einer neuen Sicht auf die Kunst und zu einer neuen Wahrnehmung.

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